Manfred Ach
ALTE FOTOS
ISBN 3-87512-199-6,
Umschlaggrafik: Wolfgang Krinninger, MaroVerlag, 1. Auflage Augsburg
1990, 84 S., EUR 9.-
"In diesem Panoptikum
begegnen wir Strindberg, Kafka und Nikola Tesla, hören von der bizarren
Eulenspiegelgesellschaft, von versunkenen Kontinenten und Vokalmystikern,
sitzen in Wiener Heurigenschänken und nehmen an unheiligen Münchner
Prozessionen teil, erschrecken vor der Kundalinischlange und dem
Mesmerschen Zuber, tauchen nach Muscheln im Unterstrom und richten
Beschwerdebriefe an Mr. Hyde ...
Neben philosophisch-essayistischen
Texten über die Archetypik magischer Beschwörungen, über die Theologie
des Drogenrauschs und die Wesensverwandtschaft von Wort und Welle
stehen sturzbachartige 'Blutlitaneien', manieristische Okkulträtsel
und lyrische Botschaften aus dem limbischen System ... Leitmotive
('vertraute Wiedergänger') und subliminale Einsprengsel provozieren
déjà-vu-Erlebnisse. Noch dazu sollen die Texte nicht in linearer
Reihenfolge, sondern nach der Bezifferung eines magischen Quadrats
gelesen werden ...
Es ist ein Höllenspaß,
sich in dieses Labyrinth zu begeben, aber ich will verdammt sein,
wenn ich den Kopf dessen haben möchte, der es ersann ..."
(Uta Refson im Generalanzeiger
für Utopia)
THANATOS
Als ich ihn zum ersten
Mal sah, war ich noch ein Kind. Auch er hat sich seitdem sehr verändert.
Damals sah ich ihn noch mit schwarzem Umhang, Degen und Dreispitz,
wie er zu mir herauflächelte mit einem Gesicht aus Kalk, wenn ich
oben im Fliederbaum saß und Ruten schnitt. Damals kam er nur selten
und sprach kaum ein Wort. Erst später, als ich mit ihm auf dem Dachboden
wilde Streiche ersann, blieb er länger. Auch hatte sein Gesicht
eine frischere Farbe, seine Gesten waren lebendig und seine Sprache
heftig und wortreich. Ich zählte ihn damals zu meinen besten Gefährten.
In den letzten Jahren aber war er so oft und unvermutet aufgetaucht,
dass ich mich von ihm belästigt fühlte. Aber ich konnte es nicht
ändern. Er blieb beharrlich an meiner Seite, auch als ich mich mit
ihm überwarf. Ich drohte, ich schrie, ich verfluchte ihn, aber er
zeigte sich ungerührt. Seine Anwesenheit schwächte mich, ich fühlte
mich seltsam erschöpft unter seinem Blick. Ich wurde krank. Ich
fürchtete um mein Leben. Aber immer wieder kam er, häufiger als
je zuvor, und das Gesicht voll ernster Wildheit. Er sprach nur wenig,
verhalten, aber mit erschreckender Bestimmtheit. Seit einiger Zeit
lässt er sich nicht mehr blicken, taucht nicht mehr auf. Das besagt
jedoch nicht, dass er verschwunden ist. Erst kürzlich machte er
sich wieder bemerkbar, indem er mir ein Fotoalbum in die Hände spielte.
Alte Fotos, auf denen ich gut lachen hatte. Bei genauem Hinsehen
kann man ihn deutlich erkennen.